Messaging-App Snapchat: Der geplatzte Traum von sich selbst zerstörenden Fotos

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Einen “digitalen Radiergummi” hat der österreichische Politikwissenschaftler Viktor Mayer-Schönberger, der heute in Oxford lehrt, schon 2009 in seinem Buch “Delete” gefordert – also die Möglichkeit, Daten über Personen und Ereignisse löschen zu können und nicht ewig und für alle abrufbar auf die Server von Google, Facebook und Co. zu bannen. Zwei Studenten der Universität Stanford haben mit Snapchat eine Smartphone-App (gratis für iPhone und Android) gebaut, mit der man Fotos und Videos an andere Nutzer senden kann, die sich nach wenigen Sekunden wieder löschen – zumindest in der Theorie.

Fotos, die sich selber löschen…
Auf das freche Gespenst auf gelbem Grund tippen, einen Empfänger aussuchen, Foto knipsen und dann noch einstellen, wie lange der Kontakt es auf seinem Smartphone ansehen darf, fertig – schon ist ein so genannter, sich selbst nach maximal 10 Sekunden zerstörender “Snap” verschickt (gleiches lässt sich mit kurzen Videos machen). Die Snapchat-Macher stellen sich gerne als Antithese zu Facebook dar, das dafür berüchtigt ist, Nutzerdaten nicht von den Servern zu löschen und noch drei Monate nach dem Löschbefehl auf den Servern zu haben.

It is deeply important to recognize the harm that permanent media can bring—and that this harm is not evenly distributed”, schreibt der selbst ernannte Social-Media-Theoretiker Nathan Jurgenson, der an einer Dissetation über Überachung und Social media schreibt, im Snapchat-Blog. “Those with non-normative identities or who are otherwise socially vulnerable have much more at stake being more likely to encounter the potential damages past data can cause by way of shaming and stigma. When social media companies make privacy mistakes it is often folks who are not straight, white, and male who pay the biggest price.” Jurgenson plädiert für “temporary social media”, also “vergängliche soziale Medien”, die vergessen können und Daten ein Ablaufdatum verpassen.


Screenshots unterwandern die Idee
In den USA ist Snapchat besonders bei jungen Nutzern beliebt, die leichtgläubig auch heikle Bilder (z.B. Nacktfotos) verschicken – als so genanntes “Sexting” (Kunstwort aus “Sex” und “texting”) machen. Doch so wie mit allen digitalen Dingen sind die versendeten “Snaps”, wie die Mitteilungen auch genannt werden, natürlich nicht endgültig gelöscht. Zum einen kann man die gelöscht geglaubten Fotos auf Android-Smartphones mit der richtigen Software wieder herstellen, wie der IT-Forensiker Richard Hickman festgestellt hat, zum anderen können die Empfänger ganz einfach einen Screenshot von der Nachricht machen. Dann gibt es auch noch Apps von Drittanbietern (z.B. SnapHack), die versprechen, die Fotos und Videos vor der Löschung zu speichern. Und schließlich wurde auch noch bekannt, dass US-Fahnder bereits Dutzende Male ungeöffnete Snaps, die noch auf den Servern von Snapchat waren, eingesehen hat.

So kommt es, dass in Blogs wie “Snapchat Sluts” (mittlerweile von Tumblr gelöscht) Nacktfotos von Snapchat-Nutzerinnen veröffentlicht werden, die wohl eigentlich dachten, das die pikanten Bilder im digitalen Nirvana verschwinden. Snapchat wird das Problem der Screenshots nicht lösen können, ohne in fundamentale Funktionen von mobilen Betriebssystemen einzugreifen – ein äußerst aussichtsloses Unterfangen. Interessant hinsichtlich der Lösch-Funktion ist auch, dass die Macher die Ablaufzeit kürzlich erweitert haben: Mit der
neuen Funktion “Stories” bleiben Fotos ganze 24 Stunden erhalten – offenbar sind zehn Sekunden nicht genug.

Nutzer bald zur Kasse bitten
Trotz aller Probleme: Mit 860 Millionen US-Dollar evaluieren Risikokapitalgeber die kleine, etwas mehr als zwei Jahre alte Firma, die derzeit mehr als 350 Millionen Fotos pro Tag versendet. Denen gefällt an Snapchat aber nicht, dass sich die versendeten Nachrichten wieder löschen, sondern die Vermarktungsmöglichkeiten. Noch ist Snapchat gratis, aber künftig könnten Zusatzfunktionen (z.B. Foto-Filter, virtuelle Sticker) als In-App-Kauf angeboten werden, oder personalisierte Werbebotschaften unter den Nutzer-Content gemischt werden. Snapchat hat damit bereits begonnen: In der App gibt es bereits einen direkten Empfehlungslink in den Play Store von Google, wo man gleich das Album “Embrace” der Band Goldroom kaufen soll.